Der VfB und das Pokalfinale
Eigentlich war alles schon abschließend besprochen und der Sündenfall so gut wie geklärt: Die einhellige Antwort auf die Schuldfrage, warum der VfB am vergangenen Samstag gegen Nürnberg weder den DFB-Pokal noch vollends das verdiente Double gewonnen hat, hieß bis gestern Cacau. Und nun das: Kommando zurück - vergessen Sie auf der Stelle den unchristlichen Faustschlag des Brasilianers und die dazugehörige rote Karte.
Schuld ist in Wahrheit: Ricardo Osorio.
Das Nürnberger Fachblatt "Kicker" hat die Bombe zum ungläubigen Entsetzen aller VfB-Fans gestern Morgen platzen lassen, gleich zum Frühstück, auf leeren Magen - und ohne Rücksicht auf dieses mexikanische Einzelschicksal schonungslos aufgedeckt, was dem VfB wirklich das Genick gebrochen hat. Schwarz auf weiß und unbestechlich lesen wir da über Osorio in der Einzelkritik das Urteil: "Versuchte das Spiel anzukurbeln. Ballsicherer als zuletzt, war beim 2:3 aber weit und breit nicht zu sehen." Die viel zu gnädige Strafe für den Mexikaner: die "Kicker"- Schulnote vier.
Einen Sechser mit Ausrufezeichen hätten wir als Pennäler für eine so haarsträubende Abwesenheit früher verpasst bekommen, und flankierend zehn blutige Hinternabdrücke mit dem Rohrstock, damit der Schmerz nicht zu schnell nachlässt·- jedenfalls hätte der "Kicker" noch viel strenger in die Tasten greifen können angesichts dieser unverzeihlichen Abstinenz des VfB-Rechtsverteidigers in jener entscheidenden 109. Minute, als der Nürnberger Kristiansen im Zuständigkeitsbereich Osorios auftauchte und unbehelligt zum Tor des Abends ausholen konnte, weil der Mexikaner weit und breit nirgends war - vor allem nicht da, wo er hingehört.
Wo war Ricardo Osorio?
Wir sind der Sache gestern sofort nachgegangen, haben stapelweise alles verfügbare Fotomaterial zu diesem Vorfall gesichtet, aber selbst mit der Lupe wird man nicht fündig: kein Osorio, weder hinten noch vorne. In der Not haben wir deshalb auch das Video vom Spiel nochmal ange-schaut, in der verlangsamten Zeitlupe, vorwärts und rückwärts - und ihn dann, beim Rücklauf, tatsächlich doch noch entdeckt, in der 68. Minute. Osorio wird in jenem Moment von der Kamera zweifelsfrei überführt: Er verlässt den Rasen.
Einfach so.
Dass der VfB danach nicht zu neunt weitermachen musste, war allein dem kleinen Arthur Boka zu verdanken, der geistesgegenwärtig auf den Platz rannte, um den Mexikaner zu ersetzen - trotzdem bleibt jetzt natürlich die Frage: Warum hat Osorio das Spiel in jener 68. Minute derart abrupt verlassen, dass er 41 Minuten später beim 2:3 "weit und breit nicht zu sehen" war, wie der "Kicker" vollkommen richtig bemerkt. Welcher Teufel hat Osorio da geritten - oder hat ihn womöglich Armin Veh ausgewechselt?
Für eine Stellungnahme war der VfB-Trainer gestern nicht zu erreichen. Er hat sich in den Urlaub verdrückt. Um die Zeit bis zu Vehs Rückkehr zu überbrücken, neigen wir in Sachen Osorio deshalb jetzt zur Unschuldsvermutung - und korrigieren, womöglich sogar im Namen des "Kicker"-Einzelkritikers, die Note nach oben.
Wir denken an eine Drei plus.
Stuttgarter Zeitung 30. Mai 2007
AndyLoos.de Fussball, Eishockey, HFE, Tipmaster
